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"heimat.kunden" – Ein Projekt von Dirk Raulf. Lippstadt 2020 - 2022
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Mittwoch, 29. Juli 2020 (Bei Suche nach "josefsheim" )
Als ob man zufällig in eine Eiterbeule gestochen hätte.
Ist in Lippstadt schon jemand all diesen Vorgängen nachgegangen?
Gibt es Entschuldigungen, ein Mahnmal, eine Tafel, eine Gedenkstätte – irgendetwas?
Zeitungsartikel? Veranstaltungen? Lesungen? Diskussionen?
Worum genau handelt es sich, um eine Reihe von Zufällen?
Um ein repräsentatives Bild der BRD der 30er bis 60er Jahre am Beispiel Lippstadts?
Um einen besonderen Zusammenhang mit dem Schwesternorden der Vinzentinerinnen?
Um meine abartige Recherche-Fantasie?

Lauter Splitter, die WIE?! zusammengehören?

Wohlgemerkt: Ich habe nicht lange und ausführlich recherchiert. Sobald man damit anfängt, wird man zuhauf mit Berichten konfroniert, sie fallen geradezu über einen her. Da es sich auch bei der Recherche so verhalten hat, vermische ich die Themen Zwangssterilisation, Heimkinder, sexueller Missbrauch. Die verschiedenen Berichte zeigen die Verknüpfungen.

1
Am 14. Juli 1933 nahm mit dem nationalsozialistischen „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ ein verbrecherisches Programm seinen Lauf. Bis 1945 wurden auf der Grundlage dieses Gesetzes mehr als 400.000 Menschen gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht – ca. 6.000 Menschen kamen durch die Folgen dieser chirurgischen Eingriffe zu Tode. Auch in der Heil-und Pflegeanstalt Warstein wurden ab 1934 mehr als 700 Patientinnen und Patienten darauf vorbereitet, durch operative Eingriffe gegen ihren Willen in dafür vorgesehenen Krankenhäusern unfruchtbar gemacht zu werden.
Zitiert nach LWL Psychiatriegeschichte in Warstein. Andere Quellen nennen fast 900 Operationen, ungefähr zur Hälfte Frauen und Männer.

2
"45 % der männlichen Patienten wurden im evangelischen Krankenhaus Lippstadt operiert, 38 % im städtischen Krankenhaus in Soest..." (Rebecca Zahl, Die Sterilisationsbücher der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Warstein)
"Fassungslos steht die etwa 65jährige Frau, ganz in Schwarz gekleidet, adrettes Hütchen auf dem Haar, vor der Bildtafel und liest immer wieder den Text. ‚Also das kann ich nicht glauben, daß Dr. Schlaaf so etwas gemacht hat. – Ich bin seit dreißig Jahren Presbyterin, mein Vater war Mitglied der Bekennenden Kirche, ich habe zwanzig Jahre lang bei Dr. Schlaaf (sic!) im Haushalt gearbeitet, also da hätte ich ja etwas merken müssen, wenn der so etwas gemacht hätte!’ Was sie nicht glauben kann, hängt als Faksimile eines amtlichen Dokuments vor ihr: die genau geführte Liste der Zwangssterilisierten des Evangelischen Krankenhauses in Lippstadt, dem ihr Brötchengeber als Chefarzt vorstand."
Die Suchen nach Prof. Dr. Schlaaff führt zu einer Fotografie aus dem Bildarchiv Walter Nies, zu finden unter 0347 a-c im Bestand des Stadtarchivs Lippstadt, Vermerk "ca. 1942/43": "Prof. Dr. Johannes Schlaaff - hier als Oberstabsarzt. Prof. Schlaaff leitete viele Jahre verdienstvoll das Ev. Krankenhaus und war eine der bekanntesten Persönlichkeiten Lippstadts." Zitiert nach www.graswurzel.net.
Prof. Dr. Johannes Schlaaff (1889 – 1966) war seit 1937 leitender Chefarzt des Evgl. Krankenhauses Lippstadt. Seit 1933 gehörte er dem Bruderrat der Westfäl. Bekenntniskirche an, seit 1946 war er Mitglied der Leitung der Evgl. Kirche von Westfalen, in engem Kontakt mit Niemöller.
Wie geht das zusammen?!

3
Monika Tschapek-Güntner, wohnhaft in Soest, ist die Vorsitzende des 2004 gegründeten Vereins ehemaliger Heimkinder. Sie selbst verbrachte die ersten 17 Jahre ihres Lebens in einer katholischen Einrichtung in Lippstadt. Seit Beginn der 2000er Jahre versucht der Verein, Entschädigungen für die Betroffenen durchzusetzen. Das ist vielfach dokumentiert; mir fehlt hier der Platz und die Zeit, das nachzuhalten. Sicher ist nur, dass die Regelungen insgesamt bis heute beschämend ausfallen. Und je mehr Zeit sich die Verantwortlichen lassen, desto weniger muss gezahlt werden. Man kennt das Prozedere.

4
Lippstadt, Josefsheim (d. i. die Institution, in der auch Paul Brunes Martyrium begann). Aus dem eidesstattlich belegte und durch viele Fotos ergänzten Bericht einer Betroffenen, von der josefsheim
/" target="_blank">Internetseite des Vereins ehemaliger Heimkinder.

Geboren wurde ich 1944 in Leverkusen (...). Ich und meine fünf Geschwister, die wir jahrelang in Kinderheimen und Erziehungsheimen weggesperrt waren, waren verzweifelte, kleine, weinende Kinder, rausgerissen aus dem Elternhaus und dann mit unseren Nöten, Ängsten, Schmerzen und unserer Verzweiflung alleingelassen. „Betreut“ von katholischen Vincentinerinnen hatten wir keine Chance ein Leben ohne Angst und Prügel bei den kleinsten Anlässen zu verbringen. Bei Strafen war es uns verboten zu weinen, zu lachen, mit anderen Kindern zu sprechen, schon gar keine Freundin zu haben und vieles mehr.

Als Kleinkinder von den Nonnen geschlagen und nach ihren „Methoden“ erzogen, wurden wir später verschüchterte, einsame Kinder und Jugendliche, verschwanden in immer schlimmeren Kinder- und Erziehungsheimen, wurden als „angehende Verwahrloste“, als „Bastarde“, „Störenfriede“ und „Querulanten“ beschimpft und immer wieder abgeschoben.

Wir wurden mit Psychopharmaka (die bunten Bonbons) ruhig gestellt, landeten als Versuchskaninchen in der Psychiatrie und wurden dann irgendwann, endgültig und unwiderruflich gebrochen, mittel- und hilflos und völlig unaufgeklärt ins Leben entlassen und waren oft zur Obdachlosigkeit verdammt. (...)

Mit zweieinhalb Jahren kam ich 1947 in das o.g. Heim. Ich möchte darauf hinweisen, dass alle Einweisungen, die mich und meine Geschwister ins Heim brachten, von Amts wegen durchgeführt wurden.

Meine Erinnerung an das Heim beginnt, als ich etwa 4 – 5 Jahre alt war und auf der Krabbelstation bei der Nonne Marta mich befand. Sie leitete ungefähr 15 Kleinkinder, Jungen und Mädchen zusammen in einer Gruppe, im dritten Stock des Gebäudes. Bei der Nonne Marta herrschte Zucht und Ordnung. Wer dagegen verstieß – durch Weinen, Lachen, Spielen oder Sprechen, bekam es zu spüren. Eine von Martas beliebtesten Strafen war es, die kleinen Kinder mit beiden Füßen an Tisch- oder Stuhlbeinen anzubinden. Den ganzen Tag lang. Zusätzlich erinnere ich mich an die fürchterlichen Schläge auf den Hinterkopf, die ich regelmäßig bekam, wenn ich weinte. Mein Gesicht schlug dabei nach vorne auf die Tischplatte und Marta schrie laut und beschimpfte mich bösartig. Marta war jeden Tag im dritten Stock, nie hatten wir Ruhe vor ihr. Von diesen Schlägen, Schreien und den Beschimpfungen waren alle Kinder betroffen. Die Nonne versuchte dadurch Angst und Schrecken zu verbreiten und uns den totalen Gehorsam einzubläuen.

Irgendwann wurde ich auch Bettnässerin in dieser Krabbelgruppe. Alle Kinder mussten sich beteiligen an der Bestrafung für das Bettnässen: Im Auftrag der Nonne Marta mussten wir die „Schuldigen“ ins Gesichts schlagen, sie treten und sie bespucken. Wer da nicht mitmachte, bekam selbst Prügel. Nun war ich an der Reihe, von den anderen Kindern auf Anweisung der Nonne verprügelt, getreten und bespuckt zu werden.

Manchmal passierte es, dass ich eine Holzperle, die zum Spielen da war, auf den Boden fallen ließ. Die Nonne Marta verdonnerte mich daraufhin einen ganzen Tag lang in einer Ecke des Aufenthaltsraumes mit dem Gesicht zur Wand zu stehen. Nach etlichen Stunden konnte ich mich nicht mehr auf den Beinen halten und die Nonne stürzte sich auf mich und drosch mit einem Handfeger so lange auf mich ein, bis ich schwankend wieder stand. Dann packte sie mich an einem Arm und zerrte mich nach nebenan in den Schlafsaal, in mein Bett und band meine Füße am Bettgitter fest. Ich weinte und schluchzte bis ich endlich einschlief.

Am nächsten Morgen wurde ich von Gebrüll, Schlägen und heftigem Schütteln geweckt: Mein Bett war nass, ich hatte wieder einmal ins Bett gemacht. Die Strafe war furchtbar: Ich saß den ganzen Tag auf einem Töpfchen im Bett, Arme und Beine wurden mir am Bettgitter festgebunden. Ich war jahrelang Bettnässerin – mit all den Erniedrigungen und Strafen, die das mit sich brachte. Zudem kam noch des Öfteren Schlafwandel hinzu. Meistens ging ich durchs Treppenhaus. Die Nachtschwester sprach mich dann an und weckte mich. Über meiner Schulter hing fast immer mein nasses Laken. Als Strafe und Prävention wurde mir – auch im Sommer – Essen und Trinken ab 15 Uhr entzogen. Dies geschah fast täglich in den über elfeinhalb Jahren, die ich bei den Vincentinerinnen in Lippstadt war.


Das ist nur der Beginn (in Auszügen) eines mehr als 30seitigen, detaillierten Berichts.
Am Ende des Berichts heißt es:
"Das St. Josef Kinderheim in Lippstadt, Hospitalstr. 15 musste in den siebziger Jahren einem Parkplatz weichen, obwohl die bauliche Substanz des Heimes in einem sehr guten Zustand war. Somit verschwanden alle Beweise, alle Akten über unsere Unterbringung in dem Heim. So jedenfalls sagte man es mir. Ich aber glaube, dass sie mir die Akten nicht aushändigen wollen. Es ist natürlich auch kaum anzunehmen, dass in diesen Akten auch nur ein Wort über Menschenrechtsverletzungen stehen dürfte! Meine zahlreichen Bemühungen, Akten über uns sieben Geschwister von anderen Heimen zu bekommen, schlugen alle fehl. Lediglich die Einwohnermeldeämter waren sehr hilfreich. Ich musste für die Auskünfte allerdings bezahlen.
(...)
Ich habe zu diesem Bericht an gegebener Stelle eine eidesstattliche Versicherung abgegeben."

Auch Paul Brune (s. gestern u. vorgestern) berichtet von der schieren Unmöglichkeit, an Unterlagen seitens der Kirche zu kommen.

5
Ähnliche Berichte gibt es über die Zustände im St. Hedwigsheim in Lippstadt. Sie betreffen ungefähr denselben Zeitraum.

Freitags war kein guter Tag für den kleinen Pierre de Picco. Freitags war Fisch-Tag im St. Hedwig-Kinderheim in Lippstadt. Und den mochte er nicht, übergab sich meistens über seinem Teller. „Ich musste das Erbrochene immer wieder aufessen“, erinnert sich der heute 46-Jährige mit Grausen an seine Zeit im katholischen Kinderheim. Der Badetag erwies sich als Tortur. „Wir wurden ins heiße Wasser gesteckt, bis unsere Haut krebsrot war“ sagt er und streicht sich dabei über die Arme, als ob er das Brennen heute noch spüren würde. Geschlagen mit Stöcken, Peitschen. Die Weidenruten, mit denen die Kinder geschlagen wurden, mussten sie selbst schnitzen. „Einmal warf mich eine der Schwestern durch die Scheibe“, sagt Pierre und zeigt seine verbliebene Narbe am Oberarm.

Quelle: taz.de

6
Unterschiedliche Quellen berichten von Zwangsarbeit der Heimkinder in Benninghausen-Eickelborn unmittelbar für die HELLA. Aus dem Bericht von Wolfgang Focke, veröffentlicht am 29.2.2020:

In Benninghausen angekommen [gemeint ist das "Landeserziehungsheim B.", DR] war das erst einmal ein Schock für mich, nie mehr im Leben habe ich so dicke Gitter vorm Fenster gesehen wie da, selbst auch nicht später im Knast. Dafür war der Tagesablauf der gleiche. 8 Stunden am Fließband für die Firma Hella-Werke in Lippstadt arbeiten. Wir montierten Rücklichter für den VW-Käfer. Auch hier ist es nötig zu erwähnen, dass wir vollwertige Arbeit gemacht haben, die schon damals in der freien Wirtschaft sozialversicherungspflichtig gewesen ist. Es gab auch zwei private Meister aus der Firma, die darauf achteten, dass alles richtig montiert wurde, die kriegten volle Gehälter und Sozialversicherung, es schreit schon zum Himmel. Da arbeiten Leute für die gleiche Firma, einen werden mit Geld bezahlt, die anderen mit Prügel. Wenn ich daran denke, was für Essen wir für die Arbeit bekommen haben. Vom Frühstück und Abendbrot wollen wir erst gar nicht reden, das war so gering, dass man abends immer mit Hunger ins Bett ging. Das Mittagessen war so eine Katastrophe, immer nur Suppe, Suppe, Suppe, die wurde im tragbaren Wärme-Container gebracht.

Direkt dem Heim angeschlossen war eine Schwachsinnigen-Anstalt, da sich dort die Küche befand, wurde da auch gekocht. Wenn dieser Kessel aufgemacht wurde, stank es im ganzen Haus so ekelhaft und wenn man sich die Suppe beguckt hatte, das durfte man nicht tun, da war man trotz Hunger schon satt, so dicke abartige Speckstücke – so richtig schwabbelig. Ich weiß nicht, wer auf die Redensart kam, man hat immer wieder gesagt: „Wahrscheinlich ist wieder ein Schwachsinniger gestorben!“

Meine schlimmste persönliche Erfahrung war auch hier wieder der sexuelle Missbrauch. Ich lag in einer Krankenzelle mit noch zwei älteren Zöglingen, die ihre sexuelle Gier an mir vollzogen. Während dieser Vergewaltigung ging die Tür auf, der Erzieher guckte rein, der Kommentar: „Ihr perversen Drecksäue, ihr Schweine, ihr abartigen…“ Die Tür flog zu, nach fünf Minuten ging sie wieder auf. Der Erzieher schlug mit dem Knüppel in der Hand wahllos auf uns ein. Da lag ich nun, ich arme Sau, vor 10 Minuten sexuell missbraucht jetzt für eine Sache, die ich garantiert nicht wollte und dort über mich ergehen lassen musste, kriege ich von dem Erzieher, von dem ich mir eigentlich Hilfe erwartet hätte, noch Schläge obendrein.
Ernst Klee, "Euthanasie" im NS-Staat - Die "Vernichtung lebensunwerten Lebens"

Die bahnbrechende Untersuchung zum Thema von Ernst Klee (1942 – 2013), von dem u. a. zahlreiche weitere Bücher zur Geschichte des NS-Staats stammen, darunter
- Was sie taten – was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord
- Auschwitz. Täter, Gehilfen, Opfer und was aus ihnen wurde. Ein Personenlexikon
- „Die SA Jesu Christi“. Die Kirchen im Banne Hitlers
- Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945?
- Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945