Freitag, 18. Dezember 2020 (Bei Suche nach "josefsheim" )
"Gott mag den allerdurchlauchtigsten und gesalbten Schafsköpfen gnädig sein; auf der Erde werden sie hoffentlich keine Gnade mehr finden." Georg Büchner, Brief an die Familie, 1831
Es hört einfach nicht auf. Der Irrsinn. Woelki-Skandal: ein Kirchenmann, der bei Amtsantritt so tat, als wolle er diesen Augiasstall ausmisten, Transparenz und so, viele schöne Worte. Jetzt wird einem klar, dass es sich einfach um eine andere Form der Vertuschung handelt, eine andere Form des Machtmissbrauchs. Einem weiteren in der unendlich langen Kette kirchlicher Skandale, ohne jede Hoffnung unendlich. Dafür, dieser Kirche mit ihren systemischen Missbrauchsstrukturen weiter die Treue zu halten, habe ich nicht das geringste Verständnis mehr. Mit dem, was wir als Religion zu bezeichnen pflegen, und mit dem Respekt davor hat das nichts zu tun.
Meisner in seiner brutalen, autoritären, ignoranten, reaktionären Art war ein Mann von gestern. Da man keinerlei Hoffnungen in ihn setzte, konnten auch keine enttäuscht werden. Bei jeder neuen Zumutung dachte man, alles klar, man hatte ohnehin mit dem Schlimmsten gerechnet. Aber noch infernalischer sind Menschen, die Hoffnung wecken und sie dann so radikal durch ihr Handeln enttäuschen, dass man eine Art Höllensturz durchmacht. So einer ist, wenn man den neuesten Entwicklungen Glauben schenken möchte (und das muss man wohl, so gut belegt, wie sie sind), Kardinal Woelki.
Es hört einfach nicht auf. Missbrauchte Fechter, missbrauchte Schwimmer, missbrauchte Turnerinnen, missbrauchte Chorknaben, missbrauchte Jungen in der Odenwaldschule, in Staufen, in Bergisch-Gladbach, in Münster, Zunahme des Missbrauchs während Corona, aktuell Skandal im Bistum Speyer, aber es geht nicht um Speyer, es geht um Millionen missbrauchter Kinder weltweit, Millionen wehrloser Opfer, für's Leben gezeichnet, und es hört einfach nicht auf, und vor allem in den Kirchen nimmt es kein Ende.
Man gebe nur einmal ein: Josefsheim Lippstadt, Waisenhaus Lippstadt, Hedwigsheim Lippstadt – die Opferberichte fliegen einem nur so um die Ohren, 50er Jahre, 60er Jahre, 70er Jahre, ja bis in die 90er Jahre, es hört einfach nicht auf. Etwas ist so bis ins Mark krank in dieser Gesellschaft, dass es nötig scheint, Wehrlosigkeit und Unschuld immer weiter zu zerstören.
Im Jahr 2019 wurden in Deutschland 15.701 Kinder als Opfer sexuellen Missbrauchs polizeilich erfasst. Die geschätzte Dunkelziffer liegt zwischen 1:15 und 1:20, also nur jeder 15. bis 20. Missbrauch wird angezeigt. Es handelt sich also um bis zu 300.000, und das ist nur die Zahl der Fälle, in denen es explizit um sexuellen Missbrauch geht. Dagegen ist eine Seuche wie Corona ein Witz.
Und stets wird daraus ein Einzelfall gemacht. Einzeltäter. Einzelgeschichten. Bis in die sogenannten "Horrordetails" hinein, das "Horrorhaus", die "Horroreltern", der "Horroronkel", das "Horrordorf", Horror, Horror, Horror. Jedesmal schwenkt der Scheinwerfer unserer Aufmerksamkeit auf das Detail, auf den "Fall", und jedes Mal geraten die Zusammenhänge und die tatsächliche Verantwortung aus dem Blickfeld. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Weil die Vorstellung, die man sich macht, mit immer neuen Szenarien aus den umsatzlüsternen Medien befeuert, sich vor das Denken, vor die Analyse, vor die Erkenntnis schiebt, dass wir es mit einer Gesellschaft zu tun haben, UNSERER Gesellschaft, die dieses Opfer bewusst und langfristig in Kauf nimmt, im Angesicht des Grauens, es nachgerade fordert, eine Art Sühne, ein Kollateralschaden für die Brutalität, die dem Ganzen zugrundeliegt.
In den letzten Tagen endlich den "Fall Bartsch" nachgelesen. Der 4fache Kindermörder, selbst fast noch ein Kind, der 1966 gefasst, in zwei Sensationsprozessen verurteilt wurde und im Gewahrsam in Lippstadt-Eickelborn 1976 an einem ärztlichen Fehler während der Kastrationsoperation starb; einer Operation, die er nach langem Widerstand schließlich in höchster Not selbst befürwortet hatte. Es gibt zahlreiche Bücher über Bartsch, es gibt mehrere Filme (sehr zu empfehlen "Nachruf auf eine Bestie", 1983, zu finden auf youtube), es gibt Theaterstücke, die Bartschs Briefe an Paul Moor zur Grundlage haben.
Paul Moor nahm als Journalist am ersten Prozess gegen Jürgen Bartsch teil, und es gelang ihm, Bartschs Vertrauen zu gewinnen. Bartsch schrieb bis zu seinem Tod 250 Briefe an Moor, in denen er nach und nach seine Lebensgeschichte erzählte, die Geschichte eines gequälten, ungeliebten, missbrauchten Kindes; die Geschichte eines Opfers, das zum "Triebtäter" wurde. Die Öffentlichkeit war angesichts der bestialischen Morde, die Bartsch ausführte, vollkommen hysterisch. Angeheizt von den üblichen Boulevardmedien (BILD) wurde mindestens die Todesstrafe gefordert, gemeinsam mit Hitler galt Bartsch als der schlimmste Massenmörder der Geschichte. Moors Buch ist die erschütternde Dokumentation des Falles Bartsch, und gleichzeitig ist das große Verdienst von Moors Buch und seinem Kommentar, Bartsch nicht als Einzelfall zu behandeln.
Man muss sich vorstellen, dass zur gleichen Zeit überall, überall (auch wenige Kilometer entfernt in Lippstadt) andere Kinder vergleichbaren Missbrauch erleben mussten wie Bartsch. Bis heute erleben müssen. Überall, das heißt nebenan. Stattdessen gilt bis heute jeder Fall als erneute Sensation, jeder einzelne Täter oder jede einzelne Täterin eine "Bestie", also nicht gesellschaftlich bedingt, sondern durch ihre eigene, bestialische Natur.
Spätestens seit den 60er Jahren gibt es eine Vielzahl von Untersuchungen und Analysen, die die nötigen Zusammenhänge zwischen systemischer Gewalt, ihren Ursachen in traditioneller Erziehung, obrigkeits- und autoritätshörigem Menschenbild, gesellschaftlichen Werten, Machtstrukturen usw. usw. herstellen. Alice Miller, deren Buch über Bartsch, Christiane F. und Hitler "Am Anfang war Erziehung" (s. Eintrag am 31. Juli) Zusammenhänge zwischen der Geschichte der Kleinkinder, die sie waren, und ihren Taten als Erwachsene oder Heranwachsende herstellt, ist nur ein prominentes Beispiel.
Hinter diesen extremen Vorgängen steht, in zahllosen Abstufungen, der "normale" Umgang in den "normalen" Familien und den "normalen" Schulen. In den 60ern und 70ern, als Bartschs Geschichte in die Öffentlichkeit kam, waren prügelnde Mütter, Väter, Lehrer*innen "normal". Es war eine andere Zeit. Nicht geprügelte Kinder bildeten die Ausnahme. Es dauerte bis 1973 (in Bayern bis 1983), bis die Prügelstrafe in den Schulen in der BRD abgeschafft wurde. Zum Vergleich: bereits 1945 geschah dies auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone und wurde dann von der DDR übernommen. Das elterliche "Züchtigungsrecht" wurde erst 2000 abgeschafft. Seitdem heißt es: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“
Dennoch. Es hört einfach nicht auf. Gesetze und Verbote allein lösen das Problem nicht. Solange diese Gesellschaft fundamental auf der Ausbeutung, Ausgrenzung, Erniedrigung und Demütigung Schwächerer basiert – nicht allein der Kinder, sondern auch alter Menschen, Kranker, Flüchtlinge, Obdachloser, Psychiatrieopfer, Behinderter, Drogenabhängiger, Randgruppen jeder Art –, solange Macht, Ansehen, Reichtum und preußische Tugenden weiter oberste Priorität haben und etwa der sogenannte "gute Ruf" einer Familie wichtiger ist als das Wohlergehen der Kinder, wird sich nichts Grundsätzliches ändern. Was täglich hinter den Fenstern der Privatwohnungen und -häuser geschieht, entzieht sich ohnehin der Wahrnehmung der Öffentlichkeit, und im Zweifelsfall entscheidet weiter das Recht des oder der Stärkeren.
Jürgen Bartsch wäre im nächsten Jahr 75 Jahre alt geworden, sein Tod jährt sich zum 35. Mal. Er wurde in Essen ohne Angabe von Namen und Daten verscharrt.
Nichts erinnert in der Lippstädter Öffentlichkeit an das Leiden der Kinder im Josefs- und Hedwigsheim. Es ist offenbar nicht wichtig genug.
Gnadenlose Vertuscher und Verharmloser wie Woelki machen weiter Karriere. Dazu sind sie in der Lage, weil ihre Instituion, die "Mutter Kirche", es ermöglicht. Sie sind aber auch dazu in der Lage, weil die gesamte Gesellschaft es zulässt.
Ihr Kinderlein kommet.
Es hört einfach nicht auf.
Paul Moor, Jürgen Bartsch. Selbstbildnis eines Kindermörders